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Konkrete Formen von Erinnerungs­kultur zu gestalten ist ein Wesens­merkmal menschlicher Gemein­schaften. Diese soziale Praxis lässt Identität anschau­lich und erfahr­bar werden, zeigt, was inner­halb der eigenen Gemein­schaft von besonderem Wert ist, als schön, glaub­haft oder auch verpönt gilt. Dabei findet das Erinnern selten nur als Auf­zählung von Fakten statt, sondern hat über­wiegend erzählenden Charakter und lädt zu aktuellen Kommen­tierungen oder Vergleichen ein. Das gilt auch für die Leit­erinnerungen des Christentums. Sie besitzen noch immer normative Kraft für die Gestal­tung des sozialen Mitein­anders wie für Vorstel­lungen von einer guten Welt und Wirklich­keit. Über Jahr­hunderte wurden im Gebiet des heutigen Europas insbesondere kirchlich entwickelte Form­vorgaben für die öffent­liche Darstellung von Erinnerungs­inhalten umgesetzt und die bild­nerischen Gestaltungen entsprechend auf ihre Angemes­senheit hin überprüft. Erst in der Renaissance entwickelte sich die kunsthafte Weise des Erkennens und Darstellens zu einer eigenen Lehre und Praktik, die jetzt auf die Person mit ihrem Genius ausge­richtet war. Dieser bestimmte nun den Wert des Werkes, nicht mehr der Genius der abgebil­deten Heiligen, wie es bei der Ikonen­malerei bis heute der Fall ist. In ebenso sach­kundiger wie ansprech­ender Darstel­lung rekonstruiert Hans Belting (2013) die Erfindung des Gemäldes und der Kunst als Spiegel der Welt in der niederländischen Malerei. Er schildert dabei auch den allmäh­lichen Wandel üblicher Motive, vom Abbild einer erinnerten Welt der Heiligen oder zumindest Fürst­lichen hin zu einer zeitgenössischen bürgerlichen Welt. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts wird dann das, was wir heute als Kunst mit einem eigenen sozialen Feld der Produktion, Rezeption, Distribution und Wertung, mit organi­sierter Lehre der Praxis­ausbildung, der Kunst­wissenschaft, Kunst­geschichte und Kunst­philosophie kennen, erstmalig greifbar.

Heute gilt als eine wesent­liche Funktion zeitgenös­sischer Kunst (für die Gesellschaft) − weniger die Darstellung von Schönheit als − das Aufzeigen ungewohnter Perspek­tiven, das Anstoß­geben zu neuen Denk­ansätzen und Reflex­ionen mit Blick auf bestimmte gesellschaftliche Thematiken. Wird Erinnerungskultur mit Elementen zeitgenössischer Kunst verbunden, kann sie sich dadurch stärkere Impulse für die Um-, Anders- bzw. Neuge­staltung gesellschaft­licher Zukunft versprechen, nicht aber schon mit konkret kalku­lierten Anschlüssen operieren.

Zeitgenös­sische Kunst steht heute in einem gewissen Kontrast zu traditio­neller und traditions­bewusster Religions­kultur mit ihrem üblicher­weise festen Set an Riten, Festen, Leit­erinnerungen und kanonischen Texten. Die Religions­institution Kirche ist allerdings kein statisches Struktur­gebilde, sondern dynamisch mit ihren Subjekten und deren Lebenswelt verbunden. Sie ist fort­laufend heraus­gefordert, ihre eigenen Grundlagen aus zeitge­nössischer Sicht zu hinter­fragen, zu deuten und gewachsene Strukturen zu verändern, wenn sie gesell­schaftlich von Belang sein will. Dazu kann von Seiten der Kirchen­leitung wissen­schaftliche Theologie oder Religions­soziologie zu Rate gezogen werden. Es können unter gleicher Ziel­setzung aber auch an kirchlichen Orten von Künstlerinnen und Künstlern geschaffene Inter­aktions­räume entstehen, welche eine Aus­einander­setzung mit künst­lerischen Positionen in Bezug auf Themen der Religion und der Gesell­schaft ermög­lichen. Wird dabei an historische Ereignisse erinnert, gehören diese Praktiken zum Gegenstands­bereich der hier im Hinter­grund stehenden Forschungs­arbeit.

Nicht immer ist heute eine klare Abgrenzung von Praktiken der Kunst gegenüber Praktiken der Religion möglich. Wo sich Akteure nicht an institutio­nellen Normen orientieren und insbesondere in Netz­werken organi­sieren, die einer­seits an ideellen Vorstel­lungen, anderer­seits an einer Markt­situation ausge­richtet sind, greifen system- bzw. feldtheoretische Unterscheidungen oft wenig. Auch an diesen hybriden Rändern des religiösen bzw. künstlerischen Feldes finden sich Formen von Erinnerungs­kultur. Adres­satinnen und Adressaten sind hier jedoch häufiger nicht als Bürgerinnen und Bürger einer Gesellschaft, sondern als indivi­duelle Subjekte mit eigener Lebens­geschichte ange­sprochen. Auch diese Praktiken gehören zum Forschungs­feld mit dem sich „Erinnerungs­farben“ besonders ausein­andersetzt.

Unter "Exemplarisches" erhalten Sie auf dieser Website Ein­blicke in ein spannendes Feld der Erinnerungs­kultur zwischen Kunst und Religon und sich hieran stellende Forschungs­fragen.

Antje Martina Mickan

 

Literaturhinweise:

Bourdieu, Pierre: „Die Auflösung des Religiösen“, in: Ders.: Religion, Schriften Band 13, Frankfurt am Main 2011, S. 243-249.

Belting, Hans: Spiegel der Welt. Die Erfindung des Gemäldes in den Niederlanden, München 22013.

Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart 32017.

Held, Jutta / Schneider, Norbert: Grundzüge der Kunstwissenschaft. Gegenstandsbereiche – Institutionen – Problemfelder, Köln 2007, bes. S. 44-60.

Mickan, Antje: „Kunst-Religion. An den Rändern des Unterscheidbaren“, in: Dies. / Klie, Thomas / Berger, Peter A. (Hg.): Räume zwischen Kunst und Religion. Sprechende Formen und religionshybride Praxis, Bielefeld 2019, S. 207-231.

Mickan, Antje: Sterblichkeit und Lebensfluss. Kunst der Erinnerung, in: Angern, Michael; Morenz, Peggy, Klie, Thomas (Hg.): Wunderkammern des Lebens. Das Kolumbarium die Eiche wird zum Erinnerungsort für eine neue Abschiedskultur, Lübeck 2020, S. 52-61.

 

 

Literaturtipp:

Beim transcrit - Verlag erhältlich.

Erinnerung und Gedächtnis

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