Forschungsprofil
Hier finden Sie in Fortsetzungsbeiträgen eine Kurzdarstellung meines theoretischen Ansatzes, mit dem ich Erinnerungskultur erforsche. Man könnte statt von einem Profil also ebenso von einem „Werkzeugkasten“ sprechen, zu dem allerdings bestimmte Fragestellungen und Blickwinkel noch hinzutreten. Es handelt sich dabei weniger um spezifisch Theologisches, sondern um theoretische Konzepte, die in den Geistes- und Sozialwissenschaften fächerübergreifend diskutiert werden und so teils auch innerhalb der Theologie eine besondere Beachtung, Ausarbeitung und Anwendung gefunden haben. Zu meinem Selbstverständnis als Praktische Theologin finden sie Informatives in meiner Kurzvorstellung dieses Faches.
Hintergrund und Forschungsgebiet:
Auch im deutschsprachigen Raum hat seit den 1980er Jahren ein soziokultureller Wandel stattgefunden, der für viele Lebensbereiche zutreffend mit den − inzwischen zu Schlagwörtern gewordenen − Begriffen ‚Globalisierung‘, ‚Individualisierung‘, ‚Enttraditionalisierung‘, ‚Pluralisierung‘, ‚Multioptionalisierung‘, neuerdings auch ‚Diversifizierung‘ beschrieben ist. Und da die ‚Digitalisierung‘ nicht mehr nur eine technische Frage, sondern inzwischen auch sozial von Einfluss ist, sollte dieses Schlagwort hier nicht vergessen werden. Damit soziale wie kirchliche Institutionen auf diese Prozesse mit einer angemessenen Entwicklung ihrer Strukturen reagieren können, brauchen sie ein gewisses Grundverständnis von den sie betreffenden Veränderungen sozialer Lebenswelt, von neuen Lebenslagen, Herausforderungen und Zusammenhängen. Empirische Sozialforschung, wozu auch empirische Religionsforschung zu zählen ist, beobachtet, dokumentiert, analysiert und hinterfragt ausschnittsweise Elemente dieser soziokulturellen Phänomene und stellt die Ergebnisse der Gesellschaft zur Verfügung. In diesem weiten Forschungsgebiet ist auch meine Arbeit zu verorten. Welche Praktiken ich dabei besonders in den Blick nehme, erfahren sie auf der Seite „Forschungsfeld“. Hier stelle ich Ihnen im Weiteren diejenigen Theoriekonzepte vor, die als analytische Werkzeuge für meine Forschung im Feld der Erinnerungskultur zwischen Kunst und Religion grundlegend sind:
1. Raumtheorie
Wenn man Raum nicht als in sich geschlossene Container versteht, sondern als Beziehungsgefüge einzelner Strukturen, wird Raumtheorie zu einem analytischen Werkzeug. Wer Raum relational denkt, hat dementsprechend weniger Quadrat-, oder Kubikmeterzahlen im Sinn, die den 'Raum' für bestimmte Inhalte oder Prozesse begrenzen, sondern das Zueinander unterschiedlicher Größen, aus dem sich als 'Raum' ein beschreibbarer Komplex an Bedeutungen, Funktionalitäten und Praktiken ergibt. Der sogenannte ‚Spatial Turn' in den Geistes- und Sozialwissenschaften bedeutet eben dies: Man geht von einem relationalen Raumbegriff aus und kann so soziale oder kulturelle Strukturen differenziert wahrnehmen, auf ihre Funktionen und Wechselwirkungen miteinander hin untersuchen. Dabei ist unter anderem zu fragen, welche ‚Dinge‘ (das meint Gegenständliches ebenso wie Menschen oder Institutionen) beim Untersuchungsgegenstand als raumkonstituierende Größen miteinander in Beziehung treten, was sie jeweils für Eigenschaften mit sich bringen und wie sich die Beziehung dieser ‚Dinge‘ untereinander qualitativ und quantitativ beschreiben lässt. Hinzu kommt die konstruktivistische Grunderkenntnis, dass Wirklichkeit immer nur aus begrenzten subjektiven Perspektiven zu erkennen ist. Sehr treffend hat die Soziologin und Stadtforscherin Martina Löw daher als die entscheidenden Prozesse der Entstehung von Raum zwei Größen beschreiben: einerseits als „Spacing“ die Positionierung von konkreten ‚Dingen‘, woraus sich ein Zueinander ergibt, andererseits als „Syntheseleistung“ die Konstruktion von Raum in der Wahrnehmung der Subjekte, die beispielsweise ihre Arbeitsumgebung als Raum mit bestimmten Eigenschaften, Möglichkeiten und Bedeutungen erfahren und erfassen. Die prinzipielle Annahme, dass mit der Veränderung eines raumkonstitutiven Elements unbedingt eine Veränderung des betreffenden Raumes insgesamt einhergeht, einschließlich der hier stattfindenden sozialen Handlungen und Interaktionen, ist eine wesentliche Erkenntnis dieser Perspektive.
Der systematische Theologe Matthias Wüthrich hat im besonderen Anschluss an die Raumsoziologie von Martina Löw sowie im weiteren Anschluss an raumtheoretische Überlegungen Ernst Cassirers ein profiliertes theologisches Konzept entwickelt, wie der menschliche Sozialraum und, ihn umfassend, der Raum Gottes konsequent relational gedacht werden kann. Dabei arbeitet Wüthrich als Grundlage eine Unterscheidung von Raumebenen heraus, welche sowohl die Analyse von soziokulturellen Zusammenhängen wie von Theologiekonzepten voranbringt.
Bei meiner Forschung nehme ich die Raumtheorie von Mathias Wüthrich im kritischen Anschluss auf und ergänze sie durch performativitätstheoretische und kunstphilosophische Konzepte. Dazu lesen Sie in der kommenden Fortsetzung auf dieser Seite mehr.
Antje Martina Mickan
Literaturhinweise zur Raumtheorie:
Cassirer, Ernst: „Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum, in: Dünne, Jörg / Günzel, Stephan (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main, 2006, S. 485-500.
Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001.
Mickan, Antje: „Erinnerungsräume“, in: Klie, Thomas / Sparre, Sieglinde (Hg.): Erinnerungslandschaften. Friedhöfe als kulturelles Gedächtnis, Stuttgart 2017, S. 83-86.
Wüthrich, Matthias: Raum Gottes. Ein systematisch-theologischer Versuch, Raum zu denken, Göttingen 2015.
2. Performativitätstheorie
Auch die im folgenden Abschnitt behandelten Theoriekonzepte stellen Sichtweisen und analytische Begriffe zur Verfügung, die meine Forschung wesentlich orientieren und als ein Instrumentarium angewandt werden. Sie sind zur oben umrissenen Raumtheorie anschlussfähig.
Mittels Sprache können Handlungen vollzogen und Wirklichkeiten – mit mehr oder weniger dauerhafter und sozial anerkannter Bedeutung – konstituiert werden. Dies geschieht beispielsweise beim Schließen einer Ehe, beim Eröffnen einer Veranstaltung oder auch beim Aussprechen einer Entschuldigung. Der britische Sprachphilosoph John L. Austin schuf in den 1950er Jahren für derartige Praktiken den Ausdruck „performativ“ und wies damit auf eine bis dahin tatsächlich wissenschaftlich unbeachtete Kraft gesprochener Worte hin. Mit Wendungen wie „Hiermit garantiere ich die Zuverlässigkeit unseres Produktes“ oder „Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Sieg“ werden Tatsachen geschaffen, die nicht nach richtig oder falsch zu beurteilen sind, sondern im schlechteren Fall scheitern können, etwa weil die aussprechende Person nicht über den notwendigen sozialen bzw. amtlichen Status verfügt. Oder sie ziehen aufgrund ihrer soziokulturellen Rahmung keine Folgen nach sich, beispielsweise wenn die Handlung innerhalb einer Bühnenwirklichkeit stattfindet wie die Taufe eines Kindes im Theaterstück. Während Austin seinen ersten Entwurf einer Theorie zu den Gelingensbedingungen performativer Sprech-Äußerungen verwarf und in eine Sprechakttheorie mit den Unterscheidungen „lokutiv“, „illokutiv“ und „perlokutiv“ wandelte, die dann insbesondere von John Searle (1969) weiter ausgearbeitet wurde, blieb er doch bei seiner These der Abgrenzung einer Gruppe von explizit performativen Aussagen gegenüber konstativen Formulierungen (vgl. Hempfer 2010).
Kurzbestimmung lokutiver, illokutiver und perlokutiver Sprechakte
lokutiv: | eine sprachlichen Konventionen folgende Äußerung wird getätigt, kann nach wahr oder falsch beurteilt werden |
illokutiv: | die Aussage bewirkt eine bestimmte Art sozialer Veränderung bzw. Verpflichtungen auf Seiten der Sprechenden oder Angesprochenen, z.B. Versprechen, Ernennungen, Drohungen |
perlokutiv: | Äußerungen ziehen Folgen nach sich wie die langfristige Verärgerung einer beleidigten Person oder auch die Übernahme einer Gerätereparatur nach Garantiezusage |
Ab den 1980er Jahren in zunehmend greifbarer Form entwickelten sich in unterschiedlichen geisteswissenschaftlichen Disziplinen differente Anschlüsse an Austins These zur Performativität, die für die Untersuchung von Erinnerungskultur zwischen Kunst und Religion mit den hier geschehenden performativen Konstruktionen von Wirklichkeit in je eigener Weise von Relevanz sind. Einen instruktiven Überblick zur Theorieentwicklung geben insbesondere die Sammelbände von Uwe Wirth (2002) sowie von Klaus W. Hempfer und Jörg Volbers (2010). Meine Darstellung muss sich an dieser Stelle auf eine kurze Skizze beschränken.
In sozialphilosophischer Perspektive erarbeitete ab Ende der 1980er Jahre Judith Butler wegweisende Erkenntnisse zur performativen, also durch soziale Praktiken geschehenden Konstruktion von Geschlecht. Sie verband Austins Konzept von der Hervorbringung sozialer Tatsachen durch sprachliche Äußerungen mit poststrukturalistischen und sprachphilosophischen Theorien (bes. Michel Foucault und Jacques Derrida). So erwies Butler, wie über die Wiederholung (Iteration) von allgemein anerkannten stereotypen Vorstellungen (geschlechtliche) Identität gebildet wird, die dementsprechend nicht naturgegeben, sondern beeinflussbar ist. Sagt beispielsweise ein Vater zu seinem Sohn: „Du bist doch ein Junge!“, dann stammt die Aussage von einer dafür als autorisiert anerkannten Person und hat zugleich einen Aufforderungscharakter, der von gesellschaftlichen Kommunikationskonzepten abhängig ist, die benennen wie ein Junge, ein Mädchen, eine Frau, ein Mann zu sein hat. Je öfter diese Sätze in ähnlicher Weise gehört werden, desto nachhaltiger können sie eine Verkörperung ihrer Bedeutung auf Seiten der Hörenden zur Folge haben. Dass Erinnerungskultur in analoger Weise funktioniert und an der Konstruktion von Identität teilhat, darf heute als ein geistes- und sozialwissenschaftlicher Konsens angesehen werden.
Eine Ästhetik des Performativen (erschienen 2004) resultiert dagegen aus der Forschungsarbeit der Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte. Sie reagiert damit auf eine seit den 1960er Jahren greifbare Abkehr von traditionellen ästhetischen Theorien in Kunst und Theater. In dieser Perspektive kommt die Aufführung (performance) von Werken (mit oder ohne festem Skript) als selbständig bedeutsame Handlung mit Ereignischarakter in den Blick, deren Bedeutung sich sowohl im Zusammenspiel von äußeren Bedingungen (etwa den Körpern der Agierenden, dem Licht oder der Raumeinrichtung) als auch über Interaktionen mit dem Publikum herausbildet. Fischer-Lichte schließt mit ihrer Arbeit auch an Austins Konzept von selbstreferentiellen (z.B. eine Entschuldigung ist das was sie sagt) und zugleich wirklichkeitskonstitutiven Sprachhandlungen an, wobei die Theaterwissenschaftlerin nun den von Austin bewusst nicht beachteten Fall des Fiktiven einbezieht. Und wenngleich sie sich in ihrer Performativitätsästhetik nicht auf Noam Chomsky bezieht, besteht zur Arbeit dieses amerikanischen Linguisten doch eine gewisse Berührung. Denn Chomsky hatte in den 1960er Jahren auf die eigenständige Bedeutung der „Performanz“ (performance) von Sprache, also der konkreten Ausführung von Sätzen bzw. von Aussagen, gegenüber einer „Kompetenz“ (competence) der Sprachverwendung hingewiesen. Explizit vergleicht Fischer-Lichte dagegen die im Kontext der Entstehung der Theaterwissenschaft geführten Diskurse des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts mit zeitgleichen perspektivischen Neuausrichtungen der Ritualtheorie. Bereits William Robertson Smith (1888) habe die bis dahin gültige Hierarchie zwischen primärem, deutungsleitenden Mythos und sekundärer Ritualausführung umgekeht, während beim Theater die eigentliche Kunst allmählich in der Aufführung, statt im dramatischen Text gesehen wurde. Theatrale Aufführungen gelten heute als besonders exemplarische Fälle des Ausdrucks von Performativität. So kommt es im Theater, wie Klaus W. Hempfer (2010, S. 26) zu Recht bemerkt, zur „je spezifischen Performanz von Performativität“ und dank der weiten Anerkennung von Fischer-Lichtes (2002, S. 291) Theorieentwurf inklusive ihrer These, beim Theater handle es sich um „performative Kunst schlechthin“, ist ihr Konzept über die Grenzen des eigenen Fachs hinweg in den kultur- und anderen geisteswissenschaftlichen Diskursen breit rezipiert worden.
Gelangen bei Gedenkveranstaltungen in Kirchen Werke zur Aufführung, so bietet Erika Fischer-Lichtes „Ästhetik des Performativen“ für deren Analyse einen fundamentalen Baustein. Dieser ist dann aber aufgrund der Beteiligung institutioneller Religion religionstheoretisch zu erweitern, worauf ich in einer späteren Darstellung unter Bezugnahme auf die Religionssoziologie von Wolfgang Eßbach (2014 u. 2019) noch zurückkommen werde. In Hinblick auf relevante performativitätstheoretische Entwürfe ist an dieser Stelle noch auf das – von Fischer-Lichte ebenfalls rezipierte – Konzept sozialer Rahmung von Erving Goffman hinzuweisen.
Der amerikanische Soziologe Erving Goffman beginnt seine Arbeiten zu einer Dramaturgie sozialen Handelns in den 1960er Jahren. Antrieb war dabei sein Interesse „für die vielfältigen Ausdrucksformen von Individuen in sozialen Interaktionen und für die sozialen Regeln, auf die Individuen zurückgreifen, wenn sie ihre Identität gegenüber den vorgegebenen Rollen abgrenzen“ (Miebach 2014, S. 102). Seine Forschung ergab, dass Individuen sich beim Agieren in sozialen Rollen (z.B. der einer Lehrerin, eines Patienten, eines Künstlers, einer Tochter) an Erwartungen orientieren, die in bestimmten sozialen Kontexten weithin geteilt werden, somit Gültigkeit besitzen und im Sinne eines Rahmens funktionieren. Dieser vom Individuum erkannte Rahmen dient nun nicht allein der Orientierung für angemessenes Handeln, sondern durch das individuelle Handeln, (in)adäquat zur Situation, konstituiert sich auch für andere erkennbar soziale Wirklichkeit. So kann beispielsweise mit Regelverstößen provoziert werden, es können aber auch neue Wirklichkeitsentwürfe entstehen. Aus performativitätstheoretischer Sicht sind hier insbesondere die von Goffman beschriebenen Transformationen von Rahmen relevant. Als solche unterscheidet Goffman Modulationen und Täuschungen. Wird etwa eine kämpferische Auseinandersetzung zwischen zwei Kontrahenten mit den Händen, also eine primäre Situation, in einer Sportarena bzw. im Boxring durchgeführt, hat eine Modulation in einen anderen sozial genormten Rahmen stattgefunden, der für alle Beteiligten als gültig erkennbar ist. Von Täuschung spricht Goffman bei Rahmen-Transformationen, die nur für eine Seite der Aktion erkannt wird. Andererseits können soziale Rahmen auch verändert oder aufgelöst werden. Die oben angesprochene Arbeit Judith Butlers bezieht sich beispielsweise auf diesen Umstand.
Antje Martina Mickan
Literatur
Austin (1962), John L.: How to Do Things with Words, Oxford.
Butler (1993), Judith: Bodies that Matter. On the Discursive Limits of ‚Sex‘, New York.
Fischer-Lichte (2004/102017), Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main.
Goffman (1977), Erving: Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt am Main.
Hempfer, Klaus W. / Volbers (Hg., 2010): Theorien des Performativen. Sprache – Wissen – Praxis. Eine kritische Bestandsaufnahme, Bielefeld.
Hempfer, Klaus W. (2010): Performance, Performanz, Performativität. Einige Unterscheidungen zur Ausdifferenzierung eines Theoriefeldes. In: Der./Volbers, Jörg (Hg.): Theorien des Performativen, S. 13-41.
Miebach (42014), Bernhard: Soziologische Handlungstheorie. Eine Einführung, Wiesbaden.
Wirth (Hg., 2002), Uwe: Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main.
3. Kunst als Praxis – eine Analyseperspektive
Bei der ethnologisch orientierten Untersuchung von Kunstausstellungen ist neben einem Einbezug der oben vorgestellten raum- und performativitätstheoretischen Konzepte außerdem eine Beachtung von Nelson Goodmans kunstphilosophischer Sicht weiterführend. Goodman geht von einer Aktivierungsnotwendigkeit von Kunst aus. In dieser Perspektive kommt Kunst als Sprachhandlungen in den Blick, die selbst bei weitgehendem Verzicht auf explizite Verbalisierungen neue, allerdings schillernde Wirklichkeiten zu schaffen vermag.[1] Laut Goodman bezieht sich Kunst auf Kunst, Kunst bringt Kunst hervor, so dass Kunstrezipierende die Bedeutung des einen Werkes auf ein anderes beziehen (können).[2] Ebenso lenkt bei Ausstellungen im Feld der Erinnerungskultur die Wahrnehmung eines Artefakts den Blick auf weitere Artefakte und raumkonstitutive Zeichen,[3] die damit in Verbindung zu bringen sind. So können Werke sich gewissermaßen gegenseitig ins Spiel bringen. Den Anfang nimmt oft eine irgendwie geartete Aktivierung eines Objekts, beispielsweise durch exponierte Aufstellung, Beleuchtung oder wortsprachliche Hinweise. Denn „Kunstwerke müssen ebenso wie Maschinen oder Personen eher als dynamische Entitäten angesehen werden, die oft in Gang gebracht, wieder neu in Gang gebracht und in Gang gehalten werden müssen“[4]. Das ist nicht nur eine für den Diskurs um große Meisterwerke zutreffende Aussage, sondern nach dem weitgehend gleichen Prinzip erfolgt im hier anvisierten Forschungsfeld die Ausstattung von Räumen. Durch bewusste Positionierung treten bestimmte Eigenschaften eines Werkes hervor, werden für Rezipientinnen und Rezipienten Impulse gegeben, um von dort aus Bezüge herzustellen.[5] Dieser Moment,[6] wenn die Betrachtenden selbst in Aktion gehen, ein Erkenntnisprozess aufgrund des Wahrgenommenen einsetzt, ist nach Goodman wesentlich dafür, dass von Kunst gesprochen werden kann. So verstanden ist Kunst eine erlernbare Praxis.
Im Modus der Aktiviertheit verweisen Objekte auf sich selbst. Mit Nelson Goodman gilt es nun weiter zu fragen, ob das, was an Bedeutung gezeigt wird, ein Ganzes darstellt, so dass eine Denotation[7] vorliegt: etwas verweist auf etwas anderes und beide Zeichen können wechselseitig füreinander verwendet werden. Oder führt das Gezeigte einen Aspekt von einer bedeuteten Eigenschaft bzw. einem Thema aus? Goodman spricht in diesem Fall von Exemplifikation,[8] was die wechselseitige Übersetzung der Zeichen ineinander nicht zulässt, sondern nur dieses eine Zugehörige zu einem Ganzen hervorhebt. Denn „Exemplifikation ist Besitz plus Bezugnahme“.[9]
Erweitert man diesen bildtheoretischen Ansatz auf durch die Platzierung von Kunstwerken geschaffene Raumensemble, ist folglich bei der Analyse stets zu fragen, ob mehrere aktivierte Objekte ein gemeinsames Thema exemplifizieren und wie Beziehungen zwischen diesen Objekten und zu ihrem Kontext konstruiert bzw. inszeniert sind. Konkret kann das heißen, dass aufgrund eines Ausstellungstitels oder aufgrund der soziokulturellen Bedeutung eines Ausstellungsortes die gezeigten Objekte – unabhängig von einer ursprünglichen künstlerischen Intention bei ihrer Erschaffung – als Exemplifikationen eines bestimmten Phänomens plausibel gedeutet werden können, dass etwa Werke zu sozialpsychologischen Fragen durch den Ort „Kirche“ und das benachbarte Objekt „Altar“ auch vom Künstler eher nicht intendierte religiöse Deutungen mit anstoßen.
Antje Martina Mickan
Dieser Text zu Kunst in Aktion entspricht weitgehend dem gleichnamigen Abschnitt in Mickan, Antje: "Leidenswege: visualisiert, performiert, erinnert. Künstlerische Transformationen biblischer Texte raumtheoretisch hinterfragt", in: Klie, Thomas / Kühn, Jakob (Hg.): Das Jenseits der Darstellung. Postdramatische Performanzen in Kirche und Theater, Bielefeld 2020, S. 85-105 (86-88).
[1] Zur damit angenommenen Performativität der untersuchten Praxis vgl. bes. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main 102017, ferner Gronau, Barbara: „Ausstellen und Aufführen. Performative Dimensionen zeitgenössischer Kunsträume“, in: Fischer-Lichte, Erika u.a. (Hg.): Die Aufführung. Diskurs – Macht – Analyse, München 2012, S. 35-48.
[2] Vgl. Goodman, Nelson: „Kunst in Aktion“, in: Steinbrenner, Jakob/Scholz, Oliver R./Ernst, Gerhard (Hg.): Symbole, Systeme, Welten. Studien zur Philosophie Nelson Goodmans, Heidelberg 2005, S. 33-42; ähnlich zu einer Hermeneutik des Sehens Soeffner, Hans Georg: „Bilder des Zen – Möglichkeitsräume“, in: Mickan/Klie/Berger (Hg.): Räume, S. 131-153.
[3] In relationaler Perspektive ist Raum nicht eine ontologische, als absolut vorgegebene Größe, sondern Raum entsteht als erkennbare Struktur durch das Zueinander von Zu-Unterscheidendem, vgl. u.a. Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt a. M. 92017, S. 27f.
[4] Goodman: „Kunst in Aktion“, S. 34.
[5] Vgl. das Konzept von Spacing und Syntheseleistung bei Löw: Raumsoziologie, S. 158-161.
[6] Zu Goodmans These, dass nicht „Was ist Kunst?“ zu fragen sei, sondern „Wann ist Kunst?“, vgl. ders.: Weisen der Welterzeugung, Frankfurt a.M. 31995, S. 76-91.
[7] Vgl. Goodman, Nelson: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt a.M. 1995, S. 15-17. – Die bei Eco übliche Unterscheidung zwischen Denotation und Konnotation findet sich bei Goodman selbst nicht, vgl. dazu den produktiven Anschluss von Esser, Andrea: „Kunst als Symbolsystem“, in: Steinbrenner/Scholz/Symbole, Symbole, S. 61-73.
[8] Vgl. Goodman: Sprachen, S. 59-63.
[9] Goodman: Sprachen, S.60.