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Hier finden Sie in Fort­setzungs­beiträgen eine Kurz­darstellung meines theoretischen Ansatzes, mit dem ich Erinnerungs­kultur erforsche. Man könnte statt von einem Profil also ebenso von einem „Werkzeug­kasten“ sprechen, zu dem allerdings bestimmte Frage­stellungen und Blick­winkel noch hinzutreten. Es handelt sich dabei weniger um spezifisch Theolo­gisches, sondern um theoretische Konzepte, die in den Geistes- und Sozial­wissenschaften fächer­übergreifend diskutiert werden und so teils auch innerhalb der Theologie eine besondere Beachtung, Aus­arbeitung und Anwendung gefunden haben. Zu meinem Selbst­verständnis als Praktische Theologin finden sie Informatives in meiner Kurz­vorstellung dieses Faches.

 

Hintergrund und Forschungs­gebiet:

Auch im deutsch­sprachigen Raum hat seit den 1980er Jahren ein sozio­kultureller Wandel stattgefunden, der für viele Lebens­bereiche zutreffend mit den − inzwischen zu Schlag­wörtern gewordenen − Begriffen ‚Globali­sierung‘, ‚Indivi­duali­sierung‘, ‚Enttraditio­nali­sierung‘, ‚Plurali­­sierung‘, ‚Multiopti­onali­sierung‘, neuerdings auch ‚Diversi­fi­zierung‘ beschrieben ist. Und da die ‚Digitali­­sierung‘ nicht mehr nur eine technische Frage, sondern inzwischen auch sozial von Einfluss ist, sollte dieses Schlagwort hier nicht vergessen werden. Damit soziale wie kirchliche Insti­tutionen auf diese Prozesse mit einer angemes­senen Entwicklung ihrer Strukturen reagieren können, brauchen sie ein gewisses Grund­verständnis von den sie betref­fenden Veränderungen sozialer Lebens­welt, von neuen Lebens­lagen, Heraus­forderungen und Zusammen­hängen. Empirische Sozial­forschung, wozu auch empirische Religions­forschung zu zählen ist, beobachtet, dokumentiert, analysiert und hinter­fragt ausschnitts­weise Elemente dieser sozio­kulturellen Phänomene und stellt die Ergebnisse der Gesellschaft zur Verfügung. In diesem weiten Forschungs­gebiet ist auch meine Arbeit zu verorten. Welche Praktiken ich dabei besonders in den Blick nehme, erfahren sie auf der Seite „Forschungsfeld“. Hier stelle ich Ihnen im Weiteren diejenigen Theoriekonzepte vor, die als analytische Werkzeuge für meine Forschung im Feld der Erinnerungskultur zwischen Kunst und Religion grundlegend sind:

1. Relationale Raumtheorie

2. Performativitätstheorie

3. Goodmans Kunstphilosophie

1. Raumtheorie

Wenn man Raum nicht als in sich geschlos­sene Container versteht, sondern als Beziehungs­gefüge einzelner Strukturen, wird Raumtheorie zu einem analytischen Werkzeug. Wer Raum relational denkt, hat dementsprechend weniger Quadrat-, oder Kubikmeterzahlen im Sinn, die den 'Raum' für bestimmte Inhalte oder Prozesse begrenzen, sondern das Zueinander unterschiedlicher Größen, aus dem sich als 'Raum' ein beschreibbarer Komplex an Bedeutungen, Funktionalitäten und Praktiken ergibt. Der sogenannte ‚Spatial Turn' in den Geistes- und Sozial­wissen­schaften bedeutet eben dies: Man geht von einem relationalen Raum­begriff aus und kann so soziale oder kulturelle Strukturen differen­ziert wahrnehmen, auf ihre Funktionen und Wechsel­wirkungen miteinander hin untersuchen. Dabei ist unter anderem zu fragen, welche ‚Dinge‘ (das meint Gegenständ­liches ebenso wie Menschen oder Insti­tutionen) beim Unter­suchungs­gegenstand als raum­konstitu­ierende Größen miteinander in Beziehung treten, was sie jeweils für Eigenschaften mit sich bringen und wie sich die Beziehung dieser ‚Dinge‘ untereinander qualitativ und quantitativ beschreiben lässt. Hinzu kommt die konstrukti­vistische Grunder­kenntnis, dass Wirklich­keit immer nur aus begrenzten subjek­tiven Perspek­tiven zu erkennen ist. Sehr treffend hat die Soziologin und Stadt­forscherin Martina Löw daher als die entschei­denden Prozesse der Entstehung von Raum zwei Größen beschreiben: einerseits als „Spacing“ die Positi­onierung von konkreten ‚Dingen‘, woraus sich ein Zueinander ergibt, anderer­seits als „Syntheseleistung“ die Konstruktion von Raum in der Wahr­nehmung der Subjekte, die beispiels­weise ihre Arbeits­umgebung als Raum mit bestimmten Eigen­schaften, Möglich­keiten und Bedeutungen erfahren und erfassen. Die prin­zipielle Annahme, dass mit der Verän­derung eines raum­konstitu­tiven Elements unbedingt eine Verän­derung des betref­fenden Raumes insgesamt einher­geht, einschließ­lich der hier statt­findenden sozialen Hand­lungen und Inter­aktionen, ist eine wesent­liche Erkenntnis dieser Perspektive.

Der syste­matische Theologe Matthias Wüthrich hat im besonderen Anschluss an die Raum­soziologie von Martina Löw sowie im weiteren Anschluss an raum­theoretische Über­legungen Ernst Cassirers ein profi­liertes theo­logisches Konzept entwickelt, wie der mensch­liche Sozial­raum und, ihn umfassend, der Raum Gottes konsequent relational gedacht werden kann. Dabei arbeitet Wüthrich als Grund­lage eine Unter­scheidung von Raum­ebenen heraus, welche sowohl die Analyse von soziokulturellen Zusammen­hängen wie von Theologie­konzepten voranbringt.

Bei meiner Forschung nehme ich die Raum­theorie von Mathias Wüthrich im kritischen Anschluss auf und ergänze sie durch performativitätstheo­retische und kunst­philo­sophische Konzepte. Dazu lesen Sie in der kommenden Fortsetzung auf dieser Seite mehr.

Antje Martina Mickan

 

Literaturhinweise zur Raum­theorie:

Cassirer, Ernst: „Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum, in: Dünne, Jörg / Günzel, Stephan (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main, 2006, S. 485-500.

Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001.

Mickan, Antje: „Erinnerungsräume“, in: Klie, Thomas / Sparre, Sieglinde (Hg.): Erinnerungslandschaften. Friedhöfe als kulturelles Gedächtnis, Stuttgart 2017, S. 83-86.

Wüthrich, Matthias: Raum Gottes. Ein systematisch-theologischer Versuch, Raum zu denken, Göttingen 2015.

2. Performativitäts­theorie

Auch die im folgenden Abschnitt behandelten Theorie­konzepte stellen Sicht­weisen und analytische Begriffe zur Verfügung, die meine Forschung wesentlich orientieren und als ein Instru­mentarium angewandt werden. Sie sind zur oben umrissenen Raum­theorie anschluss­fähig.

Mittels Sprache können Handlungen vollzogen und Wirklich­keiten – mit mehr oder weniger dauer­hafter und sozial anerkannter Bedeutung – konstituiert werden. Dies geschieht beispiels­weise beim Schließen einer Ehe, beim Eröffnen einer Veranstaltung oder auch beim Aussprechen einer Entschuldigung. Der britische Sprach­philosoph John L. Austin schuf in den 1950er Jahren für derartige Praktiken den Ausdruck „performativ“ und wies damit auf eine bis dahin tatsächlich wissen­schaftlich unbeachtete Kraft gesprochener Worte hin. Mit Wendungen wie „Hiermit garantiere ich die Zuver­lässigkeit unseres Produktes“ oder „Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Sieg“ werden Tatsachen geschaffen, die nicht nach richtig oder falsch zu beurteilen sind, sondern im schlechteren Fall scheitern können, etwa weil die aus­sprechende Person nicht über den not­wendigen sozialen bzw. amtlichen Status verfügt. Oder sie ziehen aufgrund ihrer sozio­kulturellen Rahmung keine Folgen nach sich, beispiels­weise wenn die Handlung innerhalb einer Bühnen­wirklichkeit statt­findet wie die Taufe eines Kindes im Theater­stück. Während Austin seinen ersten Entwurf einer Theorie zu den Gelingens­bedingungen performativer Sprech-Äußerungen verwarf und in eine Sprechakt­theorie mit den Unter­scheidungen „lokutiv“, „illokutiv“ und „perlokutiv“ wandelte, die dann insbesondere von John Searle (1969) weiter ausgearbeitet wurde, blieb er doch bei seiner These der Abgrenzung einer Gruppe von explizit performativen Aussagen gegenüber konstativen Formulierungen (vgl. Hempfer 2010).

 

Kurzbestimmung lokutiver, illokutiver und perlokutiver Sprechakte

lokutiv: eine sprachlichen Konventionen folgende Äußerung wird getätigt, kann nach wahr oder falsch beurteilt werden
illokutiv: die Aussage bewirkt eine bestimmte Art sozialer Veränderung bzw. Verpflichtungen auf Seiten der Sprechenden oder Angesprochenen, z.B. Versprechen, Ernennungen, Drohungen
perlokutiv: Äußerungen ziehen Folgen nach sich wie die langfristige Verärgerung einer beleidigten Person oder auch die Übernahme einer Gerätereparatur nach Garantiezusage

Ab den 1980er Jahren in zunehmend greif­barer Form entwickelten sich in unter­schiedlichen geiste­swissen­schaftlichen Disziplinen differente Anschlüsse an Austins These zur Performativität, die für die Untersuchung von Erinnerungs­kultur zwischen Kunst und Religion mit den hier geschehenden performativen Konstruktionen von Wirklichkeit in je eigener Weise von Relevanz sind. Einen instruktiven Überblick zur Theorie­entwicklung geben insbesondere die Sammel­bände von Uwe Wirth (2002) sowie von Klaus W. Hempfer und Jörg Volbers (2010). Meine Darstellung muss sich an dieser Stelle auf eine kurze Skizze beschränken.

In sozial­philosophischer Perspektive erarbeitete ab Ende der 1980er Jahre Judith Butler wegweisende Erkenntnisse zur perfor­mativen, also durch soziale Praktiken geschehenden Konstruktion von Geschlecht. Sie verband Austins Konzept von der Hervor­bringung sozialer Tatsachen durch sprachliche Äußerungen mit post­struktura­listischen und sprach­philo­sophischen Theorien (bes. Michel Foucault und Jacques Derrida). So erwies Butler, wie über die Wieder­holung (Iteration) von allgemein aner­kannten stereotypen Vor­stellungen (geschlechtliche) Identität gebildet wird, die dement­sprechend nicht natur­gegeben, sondern beein­flussbar ist. Sagt beispiels­weise ein Vater zu seinem Sohn: „Du bist doch ein Junge!“, dann stammt die Aussage von einer dafür als autorisiert anerkannten Person und hat zugleich einen Auf­forderungs­charakter, der von gesell­schaftlichen Kommunikations­konzepten abhängig ist, die benennen wie ein Junge, ein Mädchen, eine Frau, ein Mann zu sein hat. Je öfter diese Sätze in ähnlicher Weise gehört werden, desto nachhaltiger können sie eine Verkörperung ihrer Bedeutung auf Seiten der Hörenden zur Folge haben. Dass Erinnerungs­kultur in analoger Weise funktioniert und an der Konstruktion von Identität teilhat, darf heute als ein geistes- und sozial­wissenschaft­licher Konsens angesehen werden.

Eine Ästhetik des Performativen (erschienen 2004) resultiert dagegen aus der Forschungs­arbeit der Theater­wissen­schaftlerin Erika Fischer-Lichte. Sie reagiert damit auf eine seit den 1960er Jahren greifbare Abkehr von traditionellen ästhetischen Theorien in Kunst und Theater. In dieser Perspektive kommt die Auf­führung (performance) von Werken (mit oder ohne festem Skript) als selbständig bedeutsame Handlung mit Ereignis­charakter in den Blick, deren Bedeutung sich sowohl im Zusammen­spiel von äußeren Bedingungen (etwa den Körpern der Agierenden, dem Licht oder der Raum­einrichtung) als auch über Interaktionen mit dem Publikum herausbildet. Fischer-Lichte schließt mit ihrer Arbeit auch an Austins Konzept von selbstreferentiellen (z.B. eine Entschuldigung ist das was sie sagt) und zugleich wirklichkeits­konstitutiven Sprach­handlungen an, wobei die Theater­wissenschaft­lerin nun den von Austin bewusst nicht beachteten Fall des Fiktiven einbezieht. Und wenngleich sie sich in ihrer Performa­tivitäts­ästhetik nicht auf Noam Chomsky bezieht, besteht zur Arbeit dieses amerikanischen Linguisten doch eine gewisse Berührung. Denn Chomsky hatte in den 1960er Jahren auf die eigenständige Bedeutung der „Performanz“ (performance) von Sprache, also der konkreten Ausführung von Sätzen bzw. von Aussagen, gegenüber einer „Kompetenz“ (competence) der Sprach­verwendung hingewiesen. Explizit vergleicht Fischer-Lichte dagegen die im Kontext der Entstehung der Theater­wissenschaft geführten Diskurse des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts mit zeitgleichen perspekti­vischen Neuaus­richtungen der Ritual­theorie. Bereits William Robertson Smith (1888) habe die bis dahin gültige Hierarchie zwischen primärem, deutungs­leitenden Mythos und sekundärer Ritual­ausführung umgekeht, während beim Theater die eigentliche Kunst allmählich in der Aufführung, statt im dramatischen Text gesehen wurde. Theatrale Aufführungen gelten heute als besonders exemplarische Fälle des Ausdrucks von Performa­tivität. So kommt es im Theater, wie Klaus W. Hempfer (2010, S. 26) zu Recht bemerkt, zur „je spezifischen Performanz von Performa­tivität“ und dank der weiten Anerkennung von Fischer-Lichtes (2002, S. 291) Theorie­entwurf inklusive ihrer These, beim Theater handle es sich um „performative Kunst schlechthin“, ist ihr Konzept über die Grenzen des eigenen Fachs hinweg in den kultur- und anderen geistes­wissenschaft­lichen Diskursen breit rezipiert worden.

Gelangen bei Gedenk­veranstaltungen in Kirchen Werke zur Aufführung, so bietet Erika Fischer-Lichtes „Ästhetik des Performa­tiven“ für deren Analyse einen fundamentalen Baustein. Dieser ist dann aber aufgrund der Beteiligung insti­tutioneller Religion religions­theoretisch zu erweitern, worauf ich in einer späteren Darstellung unter Bezugnahme auf die Religions­soziologie von Wolfgang Eßbach (2014 u. 2019) noch zurückkommen werde. In Hinblick auf relevante performa­tivitäts­theoretische Entwürfe ist an dieser Stelle noch auf das – von Fischer-Lichte ebenfalls rezipierte – Konzept sozialer Rahmung von Erving Goffman hinzuweisen.

Der amerikanische Soziologe Erving Goffman beginnt seine Arbeiten zu einer Dramaturgie sozialen Handelns in den 1960er Jahren. Antrieb war dabei sein Interesse „für die vielfältigen Ausdrucks­formen von Individuen in sozialen Inter­aktionen und für die sozialen Regeln, auf die Individuen zurück­greifen, wenn sie ihre Identität gegenüber den vorgegebenen Rollen abgrenzen“ (Miebach 2014, S. 102). Seine Forschung ergab, dass Individuen sich beim Agieren in sozialen Rollen (z.B. der einer Lehrerin, eines Patienten, eines Künstlers, einer Tochter) an Erwartungen orientieren, die in bestimmten sozialen Kontexten weithin geteilt werden, somit Gültigkeit besitzen und im Sinne eines Rahmens funktionieren. Dieser vom Individuum erkannte Rahmen dient nun nicht allein der Orientierung für ange­messenes Handeln, sondern durch das individuelle Handeln, (in)adäquat zur Situation, konstituiert sich auch für andere erkennbar soziale Wirklichkeit. So kann beispielsweise mit Regelverstößen provoziert werden, es können aber auch neue Wirk­lichkeits­entwürfe entstehen. Aus performa­tivitäts­theoretischer Sicht sind hier insbe­sondere die von Goffman beschriebenen Trans­formationen von Rahmen relevant. Als solche unterscheidet Goffman Modulationen und Täuschungen. Wird etwa eine kämpferische Auseinandersetzung zwischen zwei Kontrahenten mit den Händen, also eine primäre Situation, in einer Sportarena bzw. im Boxring durchgeführt, hat eine Modulation in einen anderen sozial genormten Rahmen stattgefunden, der für alle Beteiligten als gültig erkennbar ist. Von Täuschung spricht Goffman bei Rahmen-Transformationen, die nur für eine Seite der Aktion erkannt wird. Andererseits können soziale Rahmen auch verändert oder aufgelöst werden. Die oben angesprochene Arbeit Judith Butlers bezieht sich beispielsweise auf diesen Umstand.

Antje Martina Mickan

Literatur

Austin (1962), John L.: How to Do Things with Words, Oxford.

Butler (1993), Judith: Bodies that Matter. On the Discursive Limits of ‚Sex‘, New York.

Fischer-Lichte (2004/102017), Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main.

Goffman (1977), Erving: Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt am Main.

Hempfer, Klaus W. / Volbers (Hg., 2010): Theorien des Performativen. Sprache – Wissen – Praxis. Eine kritische Bestandsaufnahme, Bielefeld.

Hempfer, Klaus W. (2010): Performance, Performanz, Performativität. Einige Unterscheidungen zur Ausdifferenzierung eines Theoriefeldes. In: Der./Volbers, Jörg (Hg.): Theorien des Performativen, S. 13-41.

Miebach (42014), Bernhard: Soziologische Handlungstheorie. Eine Einführung, Wiesbaden.

Wirth (Hg., 2002), Uwe: Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main.

3. Kunst als Praxis – eine Analyseperspektive

Bei der ethnologisch orientierten Unter­suchung von Kunst­aus­stellungen ist neben einem Ein­bezug der oben vorge­stellten raum- und performa­tivitäts­theoretischen Konzepte außerdem eine Beachtung von Nelson Goodmans kunst­philoso­phischer Sicht weiterführend. Goodman geht von einer Aktivierungs­notwendig­keit von Kunst aus. In dieser Perspektive kommt Kunst als Sprach­handlungen in den Blick, die selbst bei weit­gehendem Verzicht auf explizite Verbali­sierungen neue, allerdings schillernde Wirklich­keiten zu schaffen vermag.[1] Laut Goodman bezieht sich Kunst auf Kunst, Kunst bringt Kunst hervor, so dass Kunst­rezipierende die Bedeutung des einen Werkes auf ein anderes beziehen (können).[2] Ebenso lenkt bei Aus­stellungen im Feld der Erinnerungs­kultur die Wahrnehmung eines Artefakts den Blick auf weitere Artefakte und raum­konstitutive Zeichen,[3] die damit in Verbindung zu bringen sind. So können Werke sich gewisser­maßen gegenseitig ins Spiel bringen. Den Anfang nimmt oft eine irgendwie geartete Aktivierung eines Objekts, beispiels­weise durch exponierte Auf­stellung, Beleuchtung oder wort­sprachliche Hinweise. Denn „Kunst­werke müssen ebenso wie Maschinen oder Personen eher als dynamische Entitäten ange­sehen werden, die oft in Gang gebracht, wieder neu in Gang gebracht und in Gang gehalten werden müssen“[4]. Das ist nicht nur eine für den Diskurs um große Meister­werke zutreffende Aussage, sondern nach dem weit­gehend gleichen Prinzip erfolgt im hier anvisierten Forschungs­feld die Ausstattung von Räumen. Durch bewusste Positionierung treten bestimmte Eigen­schaften eines Werkes hervor, werden für Rezi­pientinnen und Rezi­pienten Impulse gegeben, um von dort aus Bezüge herzu­stellen.[5] Dieser Moment,[6] wenn die Betrach­tenden selbst in Aktion gehen, ein Erkenntnis­prozess aufgrund des Wahrge­nommenen einsetzt, ist nach Goodman wesentlich dafür, dass von Kunst gesprochen werden kann. So verstanden ist Kunst eine erlernbare Praxis.

Im Modus der Aktiviert­heit verweisen Objekte auf sich selbst. Mit Nelson Goodman gilt es nun weiter zu fragen, ob das, was an Bedeutung gezeigt wird, ein Ganzes darstellt, so dass eine Denotation[7] vorliegt: etwas verweist auf etwas anderes und beide Zeichen können wechselseitig füreinander verwendet werden. Oder führt das Gezeigte einen Aspekt von einer bedeuteten Eigenschaft bzw. einem Thema aus? Goodman spricht in diesem Fall von Exempli­fikation,[8] was die wechselseitige Über­setzung der Zeichen inein­ander nicht zulässt, sondern nur dieses eine Zuge­hörige zu einem Ganzen hervorhebt. Denn „Exempli­fikation ist Besitz plus Bezugnahme“.[9]

Erweitert man diesen bild­theoretischen Ansatz auf durch die Platzierung von Kunst­werken geschaf­fene Raum­ensemble, ist folglich bei der Analyse stets zu fragen, ob mehrere aktivierte Objekte ein gemein­sames Thema exempli­fizieren und wie Beziehungen zwischen diesen Objekten und zu ihrem Kontext konstruiert bzw. inszeniert sind. Konkret kann das heißen, dass aufgrund eines Ausstellungs­titels oder aufgrund der sozio­kulturellen Bedeutung eines Ausstellungs­ortes die gezeigten Objekte – unab­hängig von einer ursprüng­lichen künstlerischen Intention bei ihrer Erschaffung – als Exempli­fikationen eines bestimmten Phänomens plausibel gedeutet werden können, dass etwa Werke zu sozial­psychologischen Fragen durch den Ort „Kirche“ und das benachbarte Objekt „Altar“ auch vom Künstler eher nicht intendierte religiöse Deutungen mit anstoßen.

Antje Martina Mickan

Dieser Text zu Kunst in Aktion ent­spricht weit­gehend dem  gleich­namigen Abschnitt in Mickan, Antje: "Leidens­wege: visualisiert, performiert, erinnert. Künst­lerische Transfor­mationen biblischer Texte raum­theoretisch hinter­fragt", in: Klie, Thomas / Kühn, Jakob (Hg.): Das Jenseits der Darstellung. Post­dramatische Perfor­manzen in Kirche und Theater, Bielefeld 2020, S. 85-105 (86-88).

 


[1] Zur damit angenommenen Performativität der untersuchten Praxis vgl. bes. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main 102017, ferner Gronau, Barbara: „Ausstellen und Aufführen. Performative Dimensionen zeitgenössischer Kunsträume“, in: Fischer-Lichte, Erika u.a. (Hg.): Die Aufführung. Diskurs – Macht – Analyse, München 2012, S. 35-48.

[2] Vgl. Goodman, Nelson: „Kunst in Aktion“, in: Steinbrenner, Jakob/Scholz, Oliver R./Ernst, Gerhard (Hg.): Symbole, Systeme, Welten. Studien zur Philosophie Nelson Goodmans, Heidelberg 2005, S. 33-42; ähnlich zu einer Hermeneutik des Sehens Soeffner, Hans Georg: „Bilder des Zen – Möglichkeitsräume“, in: Mickan/Klie/Berger (Hg.): Räume, S. 131-153.

[3] In relationaler Perspektive ist Raum nicht eine ontologische, als absolut vorgegebene Größe, sondern Raum entsteht als erkennbare Struktur durch das Zueinander von Zu-Unterscheidendem, vgl. u.a. Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt a. M. 92017, S. 27f.

[4] Goodman: „Kunst in Aktion“, S. 34.

[5] Vgl. das Konzept von Spacing und Syntheseleistung bei Löw: Raumsoziologie, S. 158-161.

[6] Zu Goodmans These, dass nicht „Was ist Kunst?“ zu fragen sei, sondern „Wann ist Kunst?“, vgl. ders.: Weisen der Welterzeugung, Frankfurt a.M. 31995, S. 76-91.

[7] Vgl. Goodman, Nelson: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt a.M. 1995, S. 15-17. – Die bei Eco übliche Unterscheidung zwischen Denotation und Konnotation findet sich bei Goodman selbst nicht, vgl. dazu den produktiven Anschluss von Esser, Andrea: „Kunst als Symbolsystem“, in: Steinbrenner/Scholz/Symbole, Symbole, S. 61-73.

[8] Vgl. Goodman: Sprachen, S. 59-63.

[9] Goodman: Sprachen, S.60.

Unterwegs zwischen Kunst und Religion mit einem guten Werkzeugkasten

Eine Kurzcharakterisierung des hier vertretenen Forschungsansatzes erscheint auf dieser Seite in Fortsetzungsbeiträgen.

Wissenschaftlicher Austausch:

Der Arbeitskreis Empirische Religions­forschung e.V.

 ... ist eine fächerüber­greifende Platt­form für Wissen­schaftler und Wissen­schaftlerinnen aus Theologie und Sozial­wissen­schaften, die sich mit Religion in empirischer Perspektive im Zusammen­hang eigener Forschung beschäftigen.

www.empirische-religionsforschung.de

Erinnerung und Gedächtnis

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